Führt die Digitalisierung zu mehr Selbstständigkeit? Oder zu weniger?

2016-05-03 10:00
von Nicole Willnow
Alle Fotos: Nicole Willnow

03.05.2016 - Im Zuge der zunehmenden Digitalisierung bzw. des digitalen Wandels sprechen wir auch von einer Veränderung der Arbeitswelten. Letzteres wird im Moment Arbeiten 4.0 oder NewWork genannt. Ist das wirklich so neu und was bedeutet das für neue Arbeitsformen? Und sind diese Veränderungen wirklich eine Folge der Digitalisierung? 

Das digital initiierte Arbeiten 4.0 bringt viele neue Gesichtspunkte in die Zukunft der Arbeit. So haben Digitalisierung und neue Haltungen zu Arbeitszeit und Arbeitsort bereits das Leben vieler Selbständigen verändert. Inzwischen haben auch die ersten Unternehmen die Freiheiten ihrer Angestellten dahingehend erweitert, Home Office und Arbeitzeitkonten sei Dank. Das große Plus der Selbständigkeit, arbeiten zu können wo und wann und was man will, wird zunehmend auch von Angestellten erobert. Muss ich mich dann überhaupt noch selbständig machen? Wird die Zahl der Selbständigen jetzt abnehmen? Hat das Einfluß auf die Zahl der Gründungen in Deutschland. Warum sollte ich ein Startup gründen, wenn ich angestellt in einem Unternehmensinkubator die gleichen Freiheiten bei mehr Sicherheit haben kann?

Also, was spricht auch in Zukunft dafür, selbständig zu sein?

Die Digitalisierung bringt mehr Unabhängigkeit und Freiheit in Arbeitszeit und -Ort. Für Selbständige ist das schon fast der Normalfall, für Arbeitnehmer noch eher eine Kann-Option, die doch eher eine Minderheit nutzt. Wir nehmen zwar an, dass in Zukunft auch mehr Arbeitnehmer diese Freiheiten bekommen und nutzen, aber wir wissen es nicht genau. Laut Umfragen sind 20 Prozent der Arbeitnehmer daran interessiert, für 40 Prozent wäre es möglich.

Die Digitalisierung hilft mir als Solo-Entrepreneur oder Freelancer, weil ich heute viel leichter ortsunabhängig für Kunden in aller Welt arbeiten kann. Kann digital kommunizieren, meine Arbeit digital tun oder versenden, ebenso wie die Abrechnung. Eröffnet mir das nicht eine viel größere Kundenzahl, mehr Erfolg und mehr Einnahmen? Auch durch Digitalisierung, nämlich via Crowdworking-Plattformen, von denen es in letzter Zeit immer mehr gibt, kann ich mir Freelancer-Jobs leichter besorgen. Außerdem gibt es immer mehr Agenturen, die darauf spezialisiert sind, Freiberufler zu engagieren und an Unternehmen zu vermitteln, auch digital. Ähnlich wie Zeitarbeit, bloß für hochqualifizierte Selbständige.

Auch selbständig arbeitende Menschen mit Behinderungen oder gesundheitlichen Einschränkungen können sich inzwischen durch die Digitalisierung selbst Jobs verschaffen. So habe ich einen autistischen Autor kennengelernt, der einen Blog schreibt, es gibt Internet-Portale von behinderten Menschen für andere Behinderte oder Online-Shops für extra designte Klamotten und anderes mehr. Behinderten-Werkstätten und ähnliches waren schon lange für viele Betroffene unpassend und gleichzeitig haben sich viele Unternehmen in der Vergangenheit aus ihrer Verpflichtung rausgekauft, Behinderte einstellen zu müssen. Es brauchte dringend bessere Lösungen, die durch die Digitalisierung jetzt befördert werden. In Berlin plant gerade jemand einen integrativen Coworking-Space für behinderte und nicht-behinderte Menschen. Großartige Idee. Wir werden noch darüber berichten.

Trotz allem sind die Zahlen von Freelancern (joborientierte Selbstständige) oder Solopreneure (prozessorientierte Selbstständige) oder die vielen Entrepreneure in Deutschland eher übersichtlich. Es gibt ca. 4,2 Mio. Selbständige in Deutschland, davon 1,3 Mio. Freiberufler. Knapp 60 % sind Solo-Selbständige, 40 % haben Angestellte. Das sind ungefähr 10 Prozent der Erwerbstätigen. Damit sind wir nur an ungefähr 20. Stelle in Europa. Da geht noch was. Immerhin sind in den vergangenen zehn Jahren die absoluten Zahlen gestiegen, aber auch die aller Erwerbstätigen. Wie wird die Entwicklung weitergehen?

Aus Sicht der Unternehmen

Selbständige Wissensarbeitern sind für Unternehmen nicht unbedingt günstiger als angestellte. In einigen Berufen müssen die Unternehmen zahlen, was z.B. IT-Fachkräfte verlangen, weil sie sonst keine bekommen. Das gilt aber sowohl für Angestellte als auch für Selbständige. Aber in den meisten Berufen ist das nicht so. Digitale Projektarbeiter aller Art werden wegen der zeitlichen Begrenzung von Projekten gerne freiberuflich angeheuert. Befristete Arbeitsverträge sind nur vorübergehend möglich. Aber danach verliert ein Unternehmen vielleicht gute Kräfte, die sich anschließend anderweitig buchen lassen. Arbeitnehmer wählen dagegen auch heute noch gerne Sicherheiten, die jungen fast mehr als früher, wahrscheinlich wegen der unbeständigen Zeiten. Kündigung sind aber auch leichter möglich als früher. So sind Angestellte heut nicht mehr so sicher in ihren Arbeitsverhältnissen wie vor fünfzig Jahren. Hat das Auswirkungen auf die Selbständigen-Quote, also machen sich deswegen mehr Menschen selbständig? Sieht im Moment nicht so aus.

Firmen finden durch und wegen der Digitalisierung neue Formen der Zusammenarbeit mit Freiberuflern: "Auch die Firmengrenzen werden mehr und mehr geöffnet: Aufgabenpakete werden an Crowdworker – eine anonyme Masse von Freiberuflern – die auf spezifischen Plattformen ihre Dienste online anbieten, vergeben. Externe Spezialisten werden immer mehr eine bedeutende Rolle spielen.“ schreibt Christian Freilinger.

Auch werden sich Unternehmen freuen, die Freiberufler beschäftigen, wenn sie folgendes lesen: "Die 2014 erschienene OECD-Studie über die Korrelation von Arbeitsstunden und Output zeigt, dass ein Angestellter circa vier Stunden und ein Selbstständiger circa sechs Stunden am Tag produktiv arbeitet." Das sollte zur Folge haben, dass mehr Menschen als Selbständige Aufträge von Unternehmen bekommen, oder?

Politik läuft der Realität hinterher

Auf der anderen Seite gibt es im Moment unter den Freelancern eine große Diskussion wegen angeblicher Scheinselbständigkeiten und einem Gesetzesentwurf von Bundesarbeitsministerin Nahles, die vielen Selbständigen damit die Suppe versalzt. Man bekommt den Eindruck, es wird ein Zwang zu abhängiger, "ordentlicher" Beschäftigung aufgebaut. Es scheint, die Gewerkschaften und gewerkschaftsnahen Politiker haben Angst vor "ungeregelten" Arbeitsverhältnissen und versuchen deswegen dagegen neue Hindernisse hochzuziehen. Selbst wenn in der Zukunft aus 10 Prozent Selbständigen 12 oder 15 werden, ist das sicher nicht bedenklich, sondern eher begrüßungswert. Es wird immer eine Mehrheit der Erwerbstätigen angestellt bleiben. Wir brauchen allerdings mehr Flexibilität im Arbeitsleben und da sind Selbständige naturgemäß nun mal besser.

Natürlich gibt es schwarze Schafe unter Firmen, die überwiegend Scheinselbständige beschäftigen, aber doch nicht das Gros und auch eher in Niedriglohnsektoren. Auch die meisten Selbständigen sind nicht scheinselbständig. Ehrenfried Conta Gromberg sagt: "(...) Alle anderen – uns eingeschlossen – arbeiten da draußen frei. Und wir tun das gerne. Wir wollen keinen Rahmen, der uns sagt, was wir tun dürfen." In das Heer der „Lohnsklaven" möchte fast kein Selbständiger zurück. Wäre man dazu gezwungen, könnte man heute viel leichter als früher auswandern und digitaler Nomade werden. Die geschätzt um die 500 digitalen Nomaden in bzw. aus Deutschland sind im Moment noch das Extrem-Bespiel dieser digitalen selbständigen und sehr freien Arbeits- und Lebensform. Doch immer mehr Menschen interessieren sich inzwischen dafür, so zu leben und zu arbeiten.

Nach wie vor ist Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung von Selbstständigen größer als von Angestellten. Und wir brauchen den dazugehörigen Mut und die Freiheitsliebe und eine freie Arbeitskultur in Deutschland. Wir sind dabei weit entfernt von amerikanischen Niedriglohn-Verhältnissen, und nur wenige Selbständige verdienen hier unter dem Mindestlohn. Schon gar niemand der digitalisierten Wissensgesellschaft. Die unternehmerische Denke, die die meisten Selbständigen besitzen und die inzwischen auch von immer mehr Angestellten verlangt oder erwartet wird, die letztere aber eher selten haben, ist eine echte Zukunftskompetenz. Hoffentlich wird die Digitalisierung diese in Zukunft noch fördern und die Selbständigkeit in Deutschland weiter ausbauen. Wir werden sehen.


Nicole Willnow

Als leidenschaftliche Netzwerkerin und Digitalistin lag es für die Diplom-Kauffrau nah, zusammen mit Kristin Oldenburg das Meta-Netzwerk Digital Mesh zu gründen. Sie setzen sich damit für die Stärkung und Sichtbarkeit der Initiativen des digitalen Hamburgs ein. Neben ihren Online-Projekten gibt Nicole offline Trainings und Coachings in verschiedenen Themenbereichen.

www.winggiver.de


Wir wollen in diesem Blog in den kommenden Wochen verschiedene Aspekte von New Work und digitaler Teilhabe beleuchten. Im Wechsel werden Gastautoren als auch das Team von Digital Mesh zu Wort kommen. Wir freuen uns auf interessante Inhalte, über die wir gerne weiter mit Euch sprechen.

Ein besonderer Dank geht an Microsoft, welche uns in äußerst unbürokratischer Art und Weise unterstützen, diesen 'Content Hub' mit Gedanken zum Digitalen Wandel vor allem unserer Arbeitswelten zu befüllen.

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