Digitale Teilhabe. Das Smartphone - Luxusgegenstand und Fluchthelfer

2016-05-31 10:00
von Kristin Oldenburg
Das Smartphone - Luxusgegenstand und Fluchthelfer
Foto: Kristin Oldenburg

31.05.2016 - Im Zuge der zunehmenden Digitalisierung bzw. des digitalen Wandels sprechen wir auch von einer Veränderung der Arbeitswelten. Was jeden Arbeitnehmer und Freiberufler im allgemeinen betrifft, gilt auch für Menschen mit Einschränkungen. Digitale Geräte bestimmen inzwischen unseren Alltag und werden von unterschiedlichen Gruppen jeweils unterschiedlich genutzt. Sie sind aber auch ein gemeinsamer Nenner, der die digitale Teilhabe für alle Menschen möglich macht.


Das Smartphone. Für die Einen Luxusgegenstand, Digitalisierungstreiber und mobiles Office, für die Anderen Fluchthelfer, Familienzusammenhalt und Integrationstool.

Fast alle Flüchtlinge treten ihre Reise mit einem Smartphone an. Ein Umstand, der bei uns in den sogenannten Ankunftsländern oft auf großes Unverständnis trifft. Wie kann jemand, der aus dem Nirgendwo kommt, in dessen Heimat Armut und Gewalt herrschen, wie kann sich dort jemand einen solch teuren Gegenstand wie ein Smartphone und die damit verbundenen hohen Tarifgebühren leisten?

Für uns ist das Handy und damit auch das mobile Internet ein Luxusding, ein Statussymbol oder ein Arbeitsgerät. Warum aber genau kann dieses Objekt für jemand anderen lebenswichtig sein? Es ist Zeit für eine Bestandsaufnahme.

Medien versuchen bereits lange zu erklären, was viele nicht hören wollen.

Es gibt umfängliche Berichterstattung und viele Beiträge die erklären, warum fast jeder Flüchtling ein Handy besitzt. Wir alle kennen die Bilder, auf denen Flüchtlinge, die nach einer langen Überfahrt in überfüllten Booten ihr Handy in die Höhe halten, nur um irgendwo, irgendwie etwas Netz zu bekommen. Oder eben von jenen, die sich in der Erstaufnahme auf Feldbetten sitzend, versuchen die Zeit mit ihrem Smartphone zu vertreiben.

Wir sollten versuchen zu verstehen, welche Bedeutung diese Bilder transportieren und dabei hinterfragen, wie wir selbst unser Smartphone in unserer sicheren Heimat nutzen. Für uns ist es Zugang zur digitalen Welt, Statussymbol und Luxus-Gadget. Wir verbinden damit Trends wie das Internet of Things und steuern mit ihm vom Sofa aus elektronische Gegenstände in unserem Zuhause. Digitalvordenker wie Peter Kabel sagen voraus, dass zukünftig Transaktionen die neue Währung unserer technologisierten Welt sein werden und damit Content als King ablösen. Persönliche Daten werden das Zahlungsmittel der Zukunft, das Handy ist schon lange kein reines Telefon mehr. Und für einen gelangweilten Teenager ist es vielleicht der elementare Zeitvertreib, Likes zu sammeln, um sich cool und hip zu fühlen.

Linktip: Vice - Was die Smartphone-Hetze über Flüchtlinge und „Asylkritiker“ verrät

Es braucht etwas Abstand, damit wir sehen, dass es für jemand anderes die vielleicht einzige Möglichkeit ist, Kontakt zu seiner Familie zu halten. Die Stimme des Vaters zu hören, das Gesicht der Mutter zu sehen, zu wissen welche Häuser in der Heimat noch stehen und wo wieder Bomben gefallen sind. Erinnern wir uns zurück, mit welchem Aufwand unsere Großeltern Fotoalben und Erinnerungsstücke gerettet haben. Wir brauchen unsere Wurzeln und möchten die Erinnerung an sie bewahren und Kontakt zu ihr halten. Der Brief war in der damaligen Zeit das einzige Medium, um zu kommunizieren, heute ist es eben das Smartphone. 

Das Smartphone als Fluchthelfer

Auf der Flucht werden alltägliche Dinge wie SIM-Karten, WLAN und Stromquellen zu lebenswichtigen Reisebegleitern. Routen und Stationen werden so gewählt, dass die Funktionen des Smartphones aufrecht erhalten werden können. Dass aus Datenschutzgründen früher bei uns so kritisierte Google Maps ist elementar und hilft, den Flüchtenden ihren Weg auch durch Gefahrenzonen zu finden. Per WhatsApp wird Kontakt zu Schleppern aufgenommen, die Nummern von 'vertrauenswürdigen' Kontakten werden unter Flüchtenden hoch gehandelt. Die Flucht wird mit Videos und Fotos dokumentiert, auf Facebook veröffentlicht oder per Messenger an die Familie geschickt, um Ihnen ein Lebenszeichen zu senden. Das Gerät wird umsorgt und versorgt wie ein Kleinod, ein Ausfall ist eine Katastrophe, Ersatz auf der Flucht nur schwer möglich.

Hier zu ein interessantes Video in der ZDF-Mediathek: Das Smartphone als Fluchthelfer

Angekommen und nun?

Sobald WLAN verfügbar ist, werden WhatsApp, Facebook, Viber oder Skype angeworfen, um Kontakt zu Freunden und zur Familie herzustellen. Ältere Menschen, aber auch Analphabeten, profitieren sehr von den Möglichkeiten der Videochats oder Sprachnachrichten – die junge Generation zeigt ihnen, wie es geht. In einem Flüchtlingslager angekommen, ist das Smartphone auch einer der wenigen Wege aus der Langeweile.

Aber neben seinen Funktionen als Unterhaltungsmedium, gibt es inzwischen eine Vielzahl an Projekten, die es zu diesem Zeitpunkt möglich machen, Kontakt zu den Ankommenden aufzubauen, sie mit Bildungsprojekten zu unterstützen oder einfache Hilfen im Alltag zu leisten - Intergration2Go sozusagen.

Warum nutzen wir diese Tools, die auch ein fester Bestandteil unseres Altags sind, nicht verstärkt, um Integration zu leisten? Statt immer wieder den Umstand der Handynutzung bei Fremden zu kritisieren und ihn zu stigmatisieren, sollten wir es als Chance betrachten und versuchen darüber, einen Weg zu einander zu finden. Das Handy mag auf den ersten Blick polarisieren, ist es aber nicht vielleicht das, was uns verbindet? Hier ein paar Beispiele, die bereits Anwendung finden:

  1. Sprache lernen mit Whats App
    Flüchtlinge können jetzt per WhatsApp Deutsch lernen. WhatsGerman hilft dabei, wie uns das Magazin Vice zeigt, mit täglichen Lektionen.
  1. Die Wegweiser – Moin Refugees und Ankommen-App
    Die App "Moin Refugees" wurde von Jugendlichen beim Hackathon von Jugend hackt erdacht und entwickelt. Die Resonanz in den Medien war groß und auch, wenn das Projekt vielleicht nicht die Marktreife erfahren wird, so setzt es doch ein positives Zeichen.

    Die Ankommen-App wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Bundesagentur für Arbeit und dem Goethe-Institut in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk entwickelt, um Flüchtlingen wichtige Informationen nach Ihrer Ankunft zu übermitteln. Weiter enthält sie auch einen Sprachkurs. 
  1. Familienmitglieder finden mit "Refunite"
    Eine Flucht läuft in den seltensten Fällen nach Plan. Oft führt der Weg von Familienmitglieder an unterschiedlichste Orte auf der Welt. Das Projekt Refunite versucht zu helfen, und zählt zu den größte Datenbanken, die Flüchtlingsfamilien wieder zusammenbringt.
  1. Orientierung im Alltag schaffen
    Laut handysektor.de nutzen nutzen Flüchtlinge das Smartphone zur Orientierung im Alltag, z.B. um Preise zu vergleichen oder nach Busverbindungen und Öffnungszeiten zu schauen. Auch für die Absprache mit Behörden wird es gebraucht. Und sie sind mit dem Handy dank Übersetzungsfunktionen ein ganzes Stück mehr selbstständig.
  1. Job-Angebote zugänglich machen mit Projekten wie "Workeer"
    Workeer ist eine für mobile Stellenbörse gezielt für Flüchtlinge, die Jobangebote im gesamten Bundesgebiet auflistet.

Welche Hilfestellung kann die digitale Welt noch leisten?

Genau diese Frage haben wir uns auf einem Webmontag gestellt und waren von der Vielfallt der vorgestellten Projekte begeistert. Die von Jugendlichen auf dem Hackathon von Jugend hackt entwickelten Lösungen #MoinRefugees oder Fuck Borders beeindruckten. Im rasenden Tempo gewachsen ist das Projekt Hamburg packt an, welches quasi ohne digitale Vorkenntnisse gestartet und zu einer der relevanten Plattformen für interessierte Helfer in Hamburg geworden ist. Nicht unerwähnt bleiben sollen an dieser Stelle die Freifunker aus Hamburg, welche sich ehrenamtlich für die Installation von WLAN-Netzen in Flüchtlingsunterkünften einsetzen.

Über den Webmontag hinaus finden sich im Netz viele weitere spannende Projekte und Ideen

#Immigrant zum Beispiel visualisiert wie multikulturell unser Leben bereits geworden ist und welche weiten Wege wir und unsere Vorfahren auf uns genommen haben, damit wir dort ankommen konnten, wo wir heute sind. Seine Wurzeln zu kennen ist immer gut, egal wo auf der Welt man sich gerade befindet.


Linksammlung zu ergänzenden Beiträgen

Reset.org - Flüchtlingshilfe 2.0 

Caritas – kostenlose Online-Hilfen für Flüchtlinge 

 

Hier kann man helfen

Hamburg packt an braucht noch Geld für den Druck von Flyern.

Oder unterstützt Freifunk – Zeit Online hat dazu etwas geschrieben: Artikel über die Initiativen Freifunk und Refugees Emancipation

Und sicher wird sich irgendwer auch über dein altes Handy freuen...


Kristin Oldenburg

Senior Art Director Digital mit einer großen Passion für Code und Events. In Hamburg unterstützt Kristin als Webstrategin und Netzdenkerin die digitale Szene mit den Projekten Webmontag Hamburg und Digital Mesh.


Wir beleuchten in diesem Blog in den kommenden Wochen verschiedene Aspekte von New Work und digitaler Teilhabe. Im Wechsel werden Gastautoren als auch das Team von Digital Mesh zu Wort kommen. Wir freuen uns auf interessante Inhalte, über die wir gerne weiter mit Euch sprechen.

Ein besonderer Dank geht an Microsoft, welche uns in äußerst unbürokratischer Art und Weise unterstützen, diesen 'Content Hub' mit Gedanken zum Digitalen Wandel vor allem unserer Arbeitswelten zu befüllen.


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